Alastair King empfängt seinen Besucher im Mansion House, dem neoklassischen Prachtbau im Herzen der Londoner City. Die Ursprünge des in modernen Zeiten jährlich wechselnden Ehrenamtes des Lord Mayor gehen auf das Jahr 1189 zurück; zwei Frauen wurde diese Ehre bisher zuteil, King ist der 694. Mann im Amt. Ob ich ihn mit „Euer Ehren“ oder gar „Euer Gnaden“ ansprechen solle? „Nennen Sie mich Alastair“, sagt King.

Der „stolze Schotte“ spricht Englisch ohne jeden Anklang an die Heimat, die er als Schuljunge verließ. Seine Karriere hat er in der City of London gemacht, dem größten internationalen Finanzplatz der Welt. „Aber ich repräsentiere die gesamte Finanzindustrie des Landes, da gehört auch Edinburgh, Leeds und Bristol dazu.“

Lord Mayor Alastair King ist in den vergangenen Monaten viel gereist.
City of London Corporation

Und natürlich sind damit nicht nur Banker und Assetmanager gemeint, sondern auch die Vielzahl hochbezahlter Anwälte, Versicherungsmathematiker und Buchhalter, die insgesamt die Branche zu einem Herzstück der britischen Volkswirtschaft machen. Immerhin 14 Prozent trägt sie zum Bruttoinlandsprodukt des Königreiches bei.



Der 57-jährige Assetmanager ist in seinen bisher fünf Amtsmonaten viel gereist, schwärmt von Besuchen in Indien und China, von Trips nach Australien, zuletzt auch nach Amerika und Kanada. Und das in einer Zeit, in der, wie er sagt, „der globale Kapitalismus neu verdrahtet“ wird.



STANDARD: Was bedeutet das für den Finanzplatz London?



King: Eine große Chance, die wir wahrnehmen müssen. Der Patriarch einer bekannten indischen Unternehmerfamilie fragte mich: „Wo sind die Briten?“ Wir haben ein bisschen verlernt, ins Flugzeug zu steigen und für uns und unsere Produkte zu werben. Das gebe ich an die Marktteilnehmer hier in London weiter: Ihr müsst rausgehen und an Türen klopfen.



STANDARD: Die Zögerlichkeit hat wohl mit der Pandemie zu tun.



King: Die Pandemie und die Nachwirkungen der Finanzkrise sind globale Ursachen. Hinzu kommen für uns Briten der Brexit und die politische Unsicherheit vor zwei, drei Jahren.



STANDARD: Sie meinen die Premierministerin Liz Truss, die im Herbst 2022 für 49 Tage im Amt war.



King: Jetzt haben wir stabile Verhältnisse und das seit langem funktionierende Ökosystem der City mit Finanz-, Rechts- und maritimen Dienstleistern inmitten einer turbulenten, unsicher gewordenen Welt. Das ist eine großartige Chance. Denken Sie nur: Eine Volkswirtschaft wie Indien wächst jährlich um 6,5 Prozent, daran sollten wir teilhaben. Aber auch in Kanada stieß ich auf großes Interesse.



STANDARD: Weil dort wegen US-Präsident Donald Trump plötzlich Abneigung gegen Amerika besteht?



King: Ich habe gesagt: Alles, was Ihr bisher in New York gemacht habt, bietet auch der Finanzplatz London. Wenn sich Amerika als ein wenig unzuverlässig erweist, kein Problem – auf uns ist Verlass, bei uns herrscht Stabilität.

Lord Mayor Alastair King

Lord Mayor Alastair King schwärmt von Besuchen in Indien und China, von Trips nach Australien, zuletzt auch nach Amerika und Kanada.
City of London Corporation

STANDARD: Nach dem Brexit hieß es, die britische Finanzindustrie werde Zehntausende von Arbeitsplätzen an die EU verlieren. Wie sieht die Situation heute aus?



King: Zur Zeit des Referendums arbeiteten 525.000 Menschen in der City, heute sind es 678.000. Da haben Sie schon eine Antwort. Wir haben Jobs in geringem Umfang verloren, nach Dublin, Amsterdam, Frankfurt. Wenn alle auf einmal lediglich in eine Stadt gezogen wären, hätte das für uns ein größeres Problem dargestellt. Aber so war es nicht.



STANDARD: Die Labour-Regierung will nach den frostigen Beziehungen der ersten Brexit-Jahre wieder enger mit der EU zusammenarbeiten.



King: Das soll uns nur recht sein. Aber es betrifft ja doch vor allem den Handel mit Gütern, nicht mit Dienstleistungen. Der Finanzplatz London kann gut mit der jetzigen Situation leben. Mir tritt jedenfalls niemand die Tür ein und sagt: „Alastair, da musst Du dringend im Finanzministerium vorstellig werden.“



An diesem Wochenende reist King in die Schweiz, um auf ein neues Abkommen zwischen den beiden traditionsreichen Finanzplätzen hinzuweisen: Vom kommenden Jahr an erkennen die beiden Staaten die jeweils andere Finanzaufsicht an. Das sei, erläutert der Lord Mayor, gerade für kleinere Firmen ein wichtiger Vorteil.



Allerdings haben die Regulierungsbehörden auf der Insel in den vergangenen Monaten heftigen Druck von der Labour-Regierung unter Premier Keir Starmer bekommen. „Mehr Wachstum“, lautet das Mantra von Finanzministerin Rachel Reeves, was indirekt bedeutet: weniger Vorschriften, weniger Vorsicht. Für die Aufsichtsbehörden bedeutet dies eine deutliche Veränderung ihres Vorgehens der vergangenen fünfzehn Jahre, in denen es vor allem um die Vermeidung einer mit 2007/08 vergleichbaren Finanzkrise ging.



King geht auf diesem Politikfeld ganz konform mit Reeves. „Wachstum“ lautet das Motto seiner einjährigen Amtszeit, ein wenig mehr Wagemut wünscht auch er sich von den City-Firmen und ihren Aufsehern. Zwar sei die Finanzaufsicht „schon bisher absolut erstklassig“, glaubt der Assetmanager, aber: „Was jetzt gemacht wird, ist eine Feinjustierung. Es geht ja nicht nur darum, was in den Vorschriften steht. Sondern auch um die Frage, wie die Regeln im Einzelfall angewendet werden.“ (Sebastian Borger aus London, 29.4.2025)