Mehmet Tank war Richter in der Türkei. Nach dem Putschversuch gegen Präsident Erdoğan wurde er 2016 zusammen mit tausenden Kollegen verhaftet. Der Jurist über Repression, Haft und Flucht
Mehmet Tank hat viel erlebt. DER STANDARD traf den geflüchteten türkischen Richter bei seinem Wien-Besuch am Bezirksgericht Floridsdorf, im Büro von Vorsteherin Sabine Matejka, Vizepräsidentin der Internationalen Richtervereinigung.
STANDARD: Sie haben jahrelang in der Türkei als Richter in der Steuerjustiz gearbeitet. Im Juli 2016 wurden Sie verhaftet. Hatte das mit dem gescheiterten Putschversuch gegen Präsident Recep Erdoğan zu tun?
Tank: Die offiziellen Anschuldigungen gingen in diese Richtung. Als Steuerrichter war ich nie mit irgendwelchen politischen Fällen beschäftigt, allerdings war ich in der nationalen Richtervereinigung Yarsav aktiv, gemeinsam mit 2000 anderen, und habe mich gegen die Einmischung der Exekutive in die richterliche Unabhängigkeit ausgesprochen. 2012 wurde ich Vizepräsident einer Kommission der Internationalen Richtervereinigung. Da haben wir unter anderem kritische Berichte über die türkische Justiz erstellt und ausgetauscht.
STANDARD: War das der wahre Grund für Ihre Verhaftung?
Tank: Ja, ich glaube schon. Offiziell gab es zwei Anklagepunkte gegen mich: Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und Teilnahme am sogenannten Putschversuch gegen Erdoğan. Sie stützen sich unter anderem auf einen Artikel von mir, in dem ich offen die mit der Exekutive verbündeten Akteure innerhalb der Justiz kritisierte.
STANDARD: Wie lief die Verhaftung?
Tank: Ich war gerade auf Urlaub, und wir sahen im Fernsehen, was passiert war. Noch in derselben Nacht tauchte eine Liste mit den Namen von rund 2700 Richtern und Staatsanwälten auf. Der Oberste Justizrat hat alle sofort suspendiert, in der Nacht vom 15. Juli wurden landesweit Haftbefehle gegen sie erlassen.
STANDARD: Das war vorbereitet?
Tank: Ja, absolut. Es wurden auch Polizisten und Soldaten verhaftet, aber begonnen haben sie mit Richtern, unabhängigen Richtern. Wir haben nur versucht, die Justiz, unsere Werte, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu wahren. Das war der Zeitpunkt, als ich beschlossen habe zu fliehen. Ich reiste zur georgischen Grenze, aber es gab bereits ein Ausreiseverbot für 3000 Richter, von denen einer ich war. Ich wurde festgenommen und danach von einem Staatsanwalt und einem Richter verhört. Das Regime hat in den letzten zehn, 15 Jahren darauf hingearbeitet, seine Agenda war ganz klar: Sie wollten jede Kritik zum Schweigen bringen und die moderne türkische Republik in eine Art Sultanat umwandeln, ohne Platz für Rechtsstaat und Verfassung.
STANDARD: Gab es schon vor Ihrer Verhaftung Alarmsignale?
Tank: Ja. Ich wurde mehrfach strafversetzt – von Istanbul nach Mersin im Süden der Türkei, tausend Kilometer entfernt von Istanbul. Nachdem ich neun Monate dort gearbeitet hatte, versetzten sie mich 2015 nach Şanlıurfa. Das dortige Gericht hatten sie nur gegründet, um sechs erfahrene Steuerrichter und weitere dorthin zu versetzen, sie zu bestrafen und ihnen die klare Botschaft zu senden: „Wir haben euch im Blick, gehorch oder stirb.“ Sie wollten an uns ein Exempel statuieren.

STANDARD: Sie haben eine Frau und drei Kinder. Wie war das für sie?
Tank: Sie haben darunter gelitten, aber auch daraus gelernt. Ich hatte meine Frau schon 2014 gefragt, ob sie mit all den Schwierigkeiten, die auf mich zukommen werden, leben kann. Damals hatte mich eine regierungsfreundliche Zeitung auf ihrer Titelseite genannt, und auch das war ein Signal, um mich zum Schweigen zu bringen. Meine Frau meinte damals: Du musst das für unsere und für die nächste Generation machen. Es war ein hoher Preis, aber sie hat mich immer unterstützt.
STANDARD: Während Ihrer Haft wurden Sie einmal verlegt. Sie glauben, dass man Sie auf dem Weg ins zweite Gefängnis umbringen wollte?
Tank: Am 25. November 2016 um sieben Uhr in der Früh kamen Gendarmen in die Zelle und befahlen nur mir, dass ich in fünf Minuten alles gepackt haben müsse, und setzten mich in einen Gefangenentransporter, zusammen mit einem verurteilten Mörder. Das ist gesetzeswidrig, weil politische Gefangene nicht mit anderen Kriminellen transportiert werden dürfen. Plötzlich, an einem sehr abgeschiedenen Ort, blieben sie stehen, und ich dachte mir: Mehmet, das ist jetzt das Ende deiner Reise. Jedenfalls sagten sie uns, dass wir jetzt rauchen oder frische Luft schnappen können. Ich glaube, sie wollten einen Fluchtversuch inszenieren, um einen Grund zu haben, mich zu erschießen. Ich sagte: Danke, nein, ich bleibe hier. Das Innere des Transporters war dank der EU-Harmonisierung videoüberwacht – und dem verdanke ich, dass ich überlebt habe. Ich hatte Glück, dass sie mich nicht gezwungen haben auszusteigen.
STANDARD: Sie haben etwas mehr als fünf Jahre in Haft verbracht. Wie haben Sie diese Zeit überstanden?
Tank: Wir haben eine Menge Bücher gelesen, die ganze Woche diskutiert, und ich habe lange Briefe an meine Familie geschrieben. Im Gefängnis konnten wir Meinungsfreiheit leben – genau das Gegenteil dessen, was draußen in Türkei der Fall war. Zwischendurch habe ich aber oft bezweifelt, dass ich jemals wieder den Himmel sehen werde. Im ersten Gefängnis waren es 32 in einem Raum, in anderen zehn bis zwölf. Alle waren Beamte und Richter, die wegen des gleichen Vorwurfs verhaftet worden waren. Zehntausende von ihnen sind heute noch im Gefängnis. Die Zeit in Haft hat mich gelehrt zu schätzen, was ich habe: meine Familie, meine Freunde und internationalen Kollegen.
STANDARD: Die Kollegen haben Sie weiterhin unterstützt?
Tank: Unterschiedliche internationale Justizorganisationen haben uns unterstützt. Die Internationale Richtervereinigung bekundete ihre Solidarität in einem offenen Brief, den mir meine Frau ins Gefängnis schmuggelte. Außerdem haben sie mich 2016 und dann 2018 wieder zum Vizepräsidenten der Kommission ernannt – während ich in Haft war. Das gab mir Hoffnung.
STANDARD: Wie lief Ihr Prozess ab?
Tank: Per Video, in einem Raum des Gefängnisses, ich habe weder den Staatsanwalt noch den Richter jemals persönlich gesehen. Es waren drei Anhörungen, bei der dritten waren Richter aus Europa dabei, um mir ihre Solidarität zu zeigen. Bei diesem dritten Termin unterbrachen die Richter plötzlich die Anhörung, um das Urteil zu verkünden. Mein Anwalt riet mir, die sofortige Urteilsverkündung zu akzeptieren, weil immerhin die Möglichkeit bestand, dass die Richter in Anwesenheit der Europäer keine lebenslange Haft verhängen. Ich hatte Glück und bekam nur acht Jahre und vier Monate Freiheitsstrafe.
STANDARD: Wie denken Sie über die Richter, die Sie verurteilt haben?
Tank: Ich habe ihnen nie Aufmerksamkeit geschenkt, denn sie verdienen meine Aufmerksamkeit nicht. Ich sagte: Gestern saß ich als Richter da, und heute wird über mich gerichtet. Wenn das eines Tages alles endet, werden sie sich nicht dafür rechtfertigen können.

STANDARD: 2021 wurden Sie freigelassen, 2023 flüchteten Sie mit Ihrer Familie in die Schweiz. Wie kam das?
Tank: Ich wurde am 14. Oktober unter Bewährung freigelassen. Schon zwei Monate später habe ich erfahren, dass erneut gegen mich ermittelt wird, wegen derselben Vorwürfe wie beim ersten Mal. Dieses zweite Strafverfahren ist immer noch anhängig. Außerdem haben sie mich ein zweites Mal als Richter entlassen. Als mir klar wurde, dass sie mir kein freies Leben ermöglichen, habe ich einen Weg gesucht, um aus der Türkei zu flüchten, mit Unterstützung meiner internationalen Kollegen. Zunächst war der Plan, in die USA zu gehen, aber das hätte zu lange gedauert. Also haben wir beschlossen, in die Schweiz zu ziehen. Wir haben dort ein Visum bekommen, mithilfe von Kollegen. Als ich zum Flughafen Istanbul kam, wurde mir mitgeteilt, dass es gegen mich nicht nur ein Ausreiseverbot gibt, sondern gleich drei. Zum Glück ist es mir gelungen, dass diese Restriktionen aufgehoben werden.
STANDARD: Wenn man jetzt in die USA sieht, war die Schweiz vielleicht ohnehin die bessere Wahl. Was können andere Länder aus der Situation der Justiz in der Türkei lernen?
Tank: Sie alle müssen den Rechtsstaat schätzen und schützen, der von ihren Vorfahren mühsam aufgebaut wurde. Wann immer es einen Angriff auf die unabhängige Justiz oder die Gewaltentrennung gibt, müssen wir uns alle dagegen stemmen, nicht nur Richter oder Staatsanwälte, sondern Journalisten, Akademiker und alle anderen. Derzeit unterliegt die gesamte westliche Welt einem Stresstest. Das hat auch mit den großen Migrationsströmen zu tun. Es sind Leute in den Westen gekommen, die nicht gelernt haben, die Gegenseite zu akzeptieren und die Regeln zu achten. Erdoğan hat offenbar Orbán, Putin und Trump inspiriert. Die Schritte, die Trump gerade setzt, sind fast identisch mit denen, die Erdoğan in der Türkei gesetzt hat. Solche Leute wissen, wie sie die Gesellschaft kontrollieren und ihre Agenda umsetzen können. Man muss darauf achten, dass in den USA nicht dasselbe passiert wie in der Türkei, wo die Justiz ein Instrument der Repression geworden ist.
STANDARD: Zurück zu Ihnen. Was sind Ihre Pläne in der Schweiz?
Tank: Jetzt hat erst einmal meine Familie Priorität. Meine Töchter gehen alle in die Schule, wir lernen alle Deutsch. Und ich versuche, weitere Ausbildungen im Bereich der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit zu machen, um mir dort ein Standbein aufzubauen. Und ich möchte einen Beitrag zu den internationalen Bemühungen für eine unabhängige Justiz leisten, indem ich meine Erfahrungen teile.
(INTERVIEW: Renate Graber, Jakob Pflügl, 29.4.2025)
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